[…]

„Ein Teil der Anwesenden hat mich regelrecht angebrüllt“, sagt Stanley im Gespräch mit der FR zwei Tage später. Es habe Phasen gegeben, in denen nur noch geschrien worden sei. Schließlich sei ein Vertreter der Jüdischen Gemeinde Frankfurt auf das Podium gekommen und habe ihn aufgefordert, abzubrechen und zu gehen. Er sei dann, so schildert er es, durch einen Seitenausgang aus dem Gebäude und direkt in sein Hotel zurück. Die Situation habe er als außerordentlich bedrohlich und verstörend erlebt – in dieser Form sei ihm so etwas noch nie passiert.

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Stanley gehört zu jenen Philosophen, die Widersprüche nicht glätten, sondern aushalten. Als er die USA nach Trumps Wahlsieg verließ, warnte er vor einem Rückfall in bekannte faschistische Muster: die Konstruktion von Feindbildern, der Opfermythos, die Sehnsucht nach ethnischer Homogenität. Dieselben Mechanismen seien heute weltweit zu beobachten – auch in Deutschland.

Besorgniserregend sei, so formuliert er es, dass jüdische Stimmen offenkundig nicht mehr selbstverständlich kontrovers diskutieren könnten, ohne zum Schweigen gebracht zu werden. Zur Meinungsfreiheit gehöre, dass eine Rede überhaupt gehalten und zu Ende gebracht werden dürfe. Der Liberalismus, den Stanley verteidigt, ist nicht bequem. Er verlangt, die eigenen Ängste nicht zum moralischen Maßstab zu erheben. Er verlangt, zwischen Antisemitismus und Kritik zu unterscheiden.

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Gerade darin liege die eigentliche Gefahr. Denn wenn eine Gesellschaft abweichende Meinungen nicht mehr erträgt, wächst das Ressentiment im Verborgenen. Der alte Mechanismus, den schon Theodor W. Adorno und Gordon Allport beschrieben: Unterdrückte Gedanken verschwinden nicht, sie verwandeln sich in Abneigung – in diesem Fall in latenten Antisemitismus, genährt durch das Gefühl, man dürfe ,über die Juden nichts sagen‘“.

Das sei die paradoxe Dynamik unserer Gegenwart: „Aus Angst vor Antisemitismus droht Deutschland ein Diskursklima zu entwickeln, das selbst Ressentiments befördert. Und ausgerechnet jene, die im Namen der Erinnerung reden, verengen den Raum der Rede.“ Der Eklat um Jason Stanley sei nur das sichtbar gewordene Symptom.

  • trollercoaster@sh.itjust.works
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    19 hours ago

    Wenn man “nie wieder” ernstnimmt und nicht nur als Lippenbekenntnis versteht, dann ist das durchaus ein angebrachter Vergleich. Auch wenn das der deutschen Staatsräson widerspricht.

    • istdaslol@feddit.org
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      18 hours ago

      Du verstehst es auch nicht. Meine Kritik ist nicht daran, dass er den Vergleich gemacht hat, sondern dass er zu blöd ist zu merken, dass es nicht der richtige Ort und Zeitpunkt ist. Vielleicht waren Angehörige der deutschen Opfer vom 7.Oktober Massaker da; und die sind nicht besonders erfreut darüber zu hören “Ihr seit die bösen und fügt den armen Muslimen schaden zu”.

      • Melchior@feddit.org
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        10 hours ago

        Die Unterstützung des Massenmords der Hamas an unserem Volk am 7. Oktober ist unerträglicher Antisemitismus. Ebenso unerträglicher Antisemitismus ist es, die Vertreibung von Juden aus Israel zu befürworten, ohne gleichzeitig beispielsweise die Vertreibung aller weißen Europäer aus den Vereinigten Staaten und Kanada zu unterstützen. Antisemitismus ist es, in unseren Gotteshäusern oder jüdischen Schulen aufzutauchen und uns wegen des Vorgehens Israels anzuschreien. Einzelne Juden für Israels Handeln verantwortlich zu machen, ist Antisemitismus. Diese antisemitischen Handlungen unter dem Deckmantel der sozialen Gerechtigkeit oder des Liberalismus zu verbergen, ist ein Verbrechen gegen diese Ideale.

        Zitat aus der Rede.

        Ein großer Teil der Angehörigen der Opfer vom 7 Oktober haben übrigens massiv gegen das Vorgehen der israelischen Regierung in Gaza protestiert. Ich glaube kaum, dass die diese Rede als einen Angriff gewertet hätten.

      • trollercoaster@sh.itjust.works
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        15 hours ago

        Das ist aber schon arg an den Haaren herbeigezogen. Außerdem, wenn man auf eine Gedenkveranstaltung für ein faschistisches Verbrechen geht, das in einem Genozid geendet ist, auf der ein Experte für Faschismus einen Vortrag halten soll, und das auch noch in einem Land, das sich “nie wieder” auf die Fahnen geschrieben hat, dann muss man erwarten, dass der Parallelen zu aktuellen Vorkommnissen mit faschistischen und genozidalen Tendenzen ziehen wird. Sonst hätte man für den Vortrag den falschen Faschismusexperten eingeladen.